Annonces EDITO
StartseiteArchivEDITO 02/10EDITO 02/10 D

Den verhafteten Kachelmann zeigen, nicht aber Ghaddafi in Genf – oder umgekehrt?
Und welche Bedeutung haben Fahndungsbilder, die die SVP ins Netz stellt?
Von Peter Studer

In den letzten Wochen sind wir uns wiederum bewusst geworden, dass wir in einem zudringlichen Bildzeitalter leben. Ich greife drei Fälle heraus. Sie zeigen zunächst, dass vor allem im Bereich des Umgangs mit Prominenz noch immer grosse Grauzonen bestehen. Aber mehr sorgen müssen wir uns oft um das Alltagspersonal.

Jörg Kachelmann verhaftet. Streng nach dem Buchstaben des Journalistenkodex und seiner kommentierenden Richtlinien heisst es, Journalisten sollten weder Namen noch identifizierende Bilder von Personen in Verfahren veröffentlichen. Dann folgen ein paar Ausnahmen, die dennoch Berichte rechtfertigen. Relevant: Handelt es sich um eine „allgemein bekannte Person” und hängt die vorgeworfene Handlung mit der Bekanntheit zusammen?
„Allgemein bekannt” ist Kachelmann seit etwa 1992, als das Schweizer Fernsehen ihn und seine junge Firma mit der ausgebauten täglichen Wettersendung betraute, bis man sich wegen Kachelmanns Honorarforderungen in die Haare geriet. Auch in Deutschland wirkt Kachelmann bis heute als beliebter „Wetterfrosch”; dazu ist er in mehreren deutschen TV-Unterhaltungsformaten als Star aufgetreten. Nun behauptet niemand, die Verhaftung – angeblich wegen Vergewaltigung einer Ex-Freundin – habe irgendetwas mit Kachelmanns Wetter- oder Unterhaltungsauftritten zu tun. Und jetzt?
Nicht nur „Blick”, auch NZZ und „Tages-Anzeiger” haben in Internet- und Papierausgaben die Verhaftung Kachelmanns gemeldet. „Blick” wie erwartet gross am 23. März mit massivem Bildanriss auf der Front und einer Doppelseite im Blattinnern. NZZ und TA eher knapp auf ihren Crime-and-people Seiten. Der TA schob am 24. März eine ganze Seite mit farbigem Hintergrund zu Kachelmanns Person und Biografie nach.
Bei einer dermassen „öffentlichen Person” wäre es jedoch weltfremd, zu verlangen, dass die Printmedien auf Namen und Bild verzichten. Wichtiger ist, trotz der in Deutschland zackig erfolgten Verhaftung, Kachelmanns Unschuldsvermutung intakt zu halten. Nicht nur die (unbenannte) Anzeigestellerin, sondern auch Kachelmanns Anwalt und möglichst er selber müssen zu Wort kommen. Die Blätter, in die ich hineinschaute, haben das respektiert. Das Schweizer Fernsehen SF hat die Verhaftung für „Tagesschau” und „10vor10” nach Aussage von Chefredaktor Hansruedi Schoch nicht für gerüchte- oder rachesicher genug gehalten; nur die People-Sendung „Glanz&Gloria” am Vorabend durfte sie bringen.
Gegenbeispiel: „Erster Schweizer Pädo-Pfarrer sitzt in U-Haft”. Warum um Himmels willen musste „Blick” den vollen Namen bringen – und dazu noch ein Brustbild des Geistlichen, obwohl selbst nach „Blick” erst ein „Verdacht” vorliegen „soll”? Ist der neu versprochene „harte Boulevard” menschenverachtend? Soweit ich sehe, haben die andern Zeitungen sich hier zu grösserer – und berechtigter – Zurückhaltung entschlossen. Verhaftung ja, Details nein.

Unendlicher „Fall Ghaddafi”. Während einiger Zeit stand die Frage im Raum, ob die „Tribune de Genève” medienethisch legitimiert war, die widerrechtlich weitergegebenen Polizeifotos Hannibal Ghaddafis abzudrucken. Die Kontroverse war rechtlich aufgeladen worden, als Sohn Ghaddafi den Kanton Genf und die „Tribune” samt ihrem Journalisten auf 100 000 Franken Genugtuung verklagte. Die „Tribune” hatte die widerrechtlich aus Polizeiarchiven „geronnenen” Fotos von der kurzdauernden Verhaftung Ghaddafis (Juli 2009) erst zwei Monate später publiziert. Die im gleichen Medienhaus erscheinende Lausanner „24 Heures” hingegen mochte auf die Publikation verzichten.
Inzwischen hat der unberechenbare Ghaddafi junior die Frage rechtlich entschärft, indem er die Genugtuungsklage gegen die „Tribune” zurückzog. Dennoch sollte man sich der Kontroverse stellen. „Tribune”-Chefredaktor Pierre Ruetschi beruft sich auf die Medienfreiheit, in EDITO 5/09 sekundiert vom heutigen Präsidenten des Presserats, Dominique von Burg, der ebenfalls Redaktor der „Tribune” ist.
In 99 von 100 Fällen bin ich derselben Meinung wie mein Amtsnachfolger (im Presserat) von Burg – diesmal nicht. Das Ghaddafi-Knastfoto ist eine durch öffentliches Interesse ungedeckte Verletzung der Privatsphäre. Für diese nachgeschobene Demütigung – allerdings nur mitttleren Kalibers – gab es keine Rechtfertigung. Bloss „mittleren Kalibers”, weil: Ghaddafi tobte nicht, weinte nicht, aber war diesem polizeilichen Kameraobjektiv offensichtlich nicht freiwillig ausgesetzt.

SVP auf Schurkenjagd. Mitte März dokumentierte eine Überwachungskamera den versuchten Einbruch im Goldschmiedgeschäft Schneebeli in Langnau am Albis. Die Polizei weigerte sich vorläufig, die Bilder des Einbrecher-Duos ins Netz zu stellen. Die Zürcher SVP half ihr nach, indem sie auf www.schurken.ch und www.chaoten-wanted.ch die Bilder der Goldschmied-Kamera ins Netz stellte.
Die Polizei hatte sich zu recht geweigert. Zwar sind die gesetzlichen Umschreibungen der Internet-Fahndung noch selten bis inexistent, aber die Verantwortlichen sind sich interkantonal einigermassen einig: 1. Es muss sich um ein massives Delikt handeln (Zürcher Strafprozessordnung § 51: Aufforderung an die Öffentlichkeit bei „schweren Verbrechen”); 2. Mildere Mittel ohne die gefährliche und irreparable Weite einer Internetfahndung haben versagt. Notwendige Fahndung, nicht Bewirtschaftung eines SVP-Prangers ist das Gebot der Stunde.
Die SVP-Praxis nimmt den Medien deren eigenen Entscheid nicht ab. Die Medien müssen sich auch ethisch an den Empfehlungen der Kantone orientieren.


Peter Studer, Publizist, war sieben Jahre (bis 2007) Präsident des Schweizer Presserates.

© EDITO 2010