Andreas Valda über den Wert des Radios nach dem Erdbeben
Die meisten Schweizer dürften wenig Ahnung haben, was der wahre Wert eines Radios ist. Man hört es zum Frühstück, beim Autofahren, als stimulierende Geräuschkulisse. Formatradios kämpfen um Hörer mit definierten Musikschemen. Recherchierte Beiträge sind knappes Gut. Dies galt auch für Chile bis zum 27. Februar. Dann, um 3 Uhr 34, bebte die Erde drei Minuten lang mit einer Energie der Magnitude 8,8. Das fünftstärkste Erdbeben der Welt sollte diese Einstellung zum Radio grundlegend ändern. Bei uns krachten Büchergestelle zu Boden und begruben unsere schlafenden Gäste. Im Zimmer formierte sich ein „Schuttkegel” von Büchern und Krimskrams. Darunter befanden sich auch zwei kleine Spielzeugradios. Vor Jahren hatten wir sie für wenig Geld gekauft und nach Chile mitgenommen. Sie sollten in den folgenden Tagen zur Nabelschnur für Informationen werden. In Chile laufen Radios nachts mit reduziertem Team. Meist spielen computergesteuerte Programme Musik. In dieser Nacht war es nicht anders. Dennoch ging der erste Sender, das Privatradio Cooperativa, bereits zwei Minuten nach dem Beben auf Sendung. Newsreporter Raúl Argunto, der sich zufällig im Studio aufhielt, berichtete seinen Hörern, dass in ganz Santiago, der Hauptstadt des Landes mit seinen 6 Millionen Einwohnern, der Strom ausgefallen war. „Ich mahnte zur Ruhe. Ich riet, nicht auf die Strasse zu gehen und das Spital nur in echten Notfällen aufzusuchen”, erinnert sich Raúl an die ersten Minuten. Er versicherte seinen Hörern, dass er sie auf dem Laufenden halten werde.
Unschlagbares Medium. Wir sassen wie Millionen Chilenen im Dunkeln. Der Fernseher stand still, das Internet ging nicht, die Festnetzleitung war tot und die Handys blieben ohne Empfang. Selbst das nationale Katastrophenzentrum (genannt Onemi) war von der Aussenwelt abgeschnitten. Das Beben hatte fast alle Kommunikationsmittel lahm gelegt. Fast. Im Studio von Radio Cooperativa sprang Sekunden nach dem Blackout der Stromgenerator an. Das gleiche galt für viele Antennen. Als Raúl ins Mikrofon sprach und das Echo empfing, wusste er: Man hört mich. Minuten später hatte er sogar Zugang zum Internet und besuchte die Seite des US-Erdbebendienstes USGS. Zehn Minuten später erschien dort ein erstes, vorläufiges Messergebnis. So konnte Raúl seine Hörer rasch ins Bild setzen. Nachdem wir unsere Gäste befreit hatten, gruben wir die Kinderradios frei. Ich klaubte zwei Batterien aus der Computermaus und setzte sie in die Geräte ein. Zuerst empfingen wir Musik, dann eine Stimme. Der Moderator wiederholte alle paar Minuten das wichtigste: Wie stark das Beben war (wir erschraken!) und wo das Epizentrum lag (400 Kilometer südlich von uns). Danach ging ich zur Küche, um alle Kochtöpfe mit Wasser zu füllen. Diese Informationen sind entscheidend für die Einschätzung der Sicherheit, des Rettungsbedarfs und der Vorsorge. Ob ein Tsunami entsteht, ob Spitäler zerstört und ob Strassen unterbrochen sind. In diesen Minuten, Stunden – und es sollten Tage werden –, empfingen die zivile Gesellschaft, die Rettungskräfte, die Behörden und selbst Teile des Militärs fast alle Informationen aus einem der drei nationalen Privatsender (öffentliche gibt es keine). Das Medium erhielt einen enormen Reputationszuwachs. Es zeigte sich: In der Not ist es unschlagbar. Wir sassen im Kerzenlicht und hörten Radio. Alle zehn bis zwanzig Minuten bebte es. Jedesmal sagte uns die Stimme: „Keine Panik. Bleibt ruhig und versammelt Euch im Kreise der Familie. Nachbeben sind normal.” In dieser Nacht schliefen wir kaum. Um sieben Uhr lag die Zeitung vor der Türe. Die Titelseite berichtete vom Vortag, als ob nichts geschehen wäre. Währenddessen trafen im Studio die ersten Kollegen ein und berichteten live, was sie zuhause und auf dem Weg erlebt hatten. Sie sprachen von schief stehenden Wohnhäusern, von verletzten Menschen und eingestürzten Brücken. Auch meldeten sich erste Hörer. Offenbar waren gewisse Mobiltelefonnetze intakt geblieben. So erreichten uns via Radio Schilderungen aus anderen Regionen und Stadtteilen und ermöglichten eine Einschätzung der Lage. Nur aus dem Alarmzentrum war kein klärendes Bild zu erhalten.
Bestechende Vorteile. So entschied das Radio Raúl Argunto als Reporter ins Epizentrum zu senden. Er packte einen tragbaren Stromgenerator und ein Satellitentelefon mit ins Auto und machte sich auf den Weg. Die Fahrt bis zur verwüsteten Küste dauerte 13 statt den üblichen vier Stunden. Alle paar Kilometer berichtete er live, die Zuhörer waren schockiert. Das Radio hat im Vergleich zu anderen Massenmedien zwei bestechende Vorteile: Es erreicht viele Leute sofort und ist in der Not einfach zu empfangen. Selbst solche, die keine Batterien zur Hand hatten, hatten Zugang: Sie schalteten ihre Handys auf Radioempfang oder setzten sich ins Auto, um Radio zu hören. Im Äther können Hörer als Adhoc-Reporter zugeschaltet werden, was weder die Zeitung noch das Fernsehen zu leisten vermögen. Das Internet als „demokratisches Medium” war ohne Strom keinen Cent wert. Es blieb nur das Radio. Der journalistische Bericht und Kommentar, vorgebracht von einer Stimme, ist die schnellste und einfachste Art von Massenmitteilung. Das Medium erfuhr eine noch nie da gewesene Interaktion. Hörer berichteten, Radiojournalisten reisten in die Zonen der Katastrophe und informierten als erste, dass ganze Zentren am Boden lagen, dass Leute und Häuser vom Tsunami weggespült wurden und das Alarmzentrum versagt hatte. Die Radios erhielten Feedbacks und informierten schneller und verlässlicher als Behörden. Die Radiohörer übernahmen in diesen Tagen sogar die 1:1-Kommunikation, was normalerweise nicht ihre Rolle ist. Menschen riefen übers Radio ihre Liebsten auf, sich bitte zu melden. Auch meldeten Hörer den Strom-, Gas- und Wasserwerken, wo Stromkabel runterhingen, Gas aus den Leitungen trat oder geborstene Rohre die Strassen überschwemmten. Die Leistung der Radios war überwältigend. Die Leute überhäuften die Moderatoren mit Lob.
Nur einmal versagten sie. Rund eine Stunde nach dem Beben gab das Alarmzentrum eine Meldung heraus, ein Tsunami könne ausgeschlossen werden. Tausende Hörer in Küstennähe schenkten der Meldung Glauben und unterliessen es zu flüchten. So wurden sie von Wellen erfasst, die bis zu 30 Meter hoch waren. Das Alarmzentrum hatte sich folgenschwer geirrt. Die Radiostationen gaben den Irrtum Eins zu Eins wieder. Etwa 300 Menschen fanden deshalb den Tod. Dabei hätten alle, auch Moderatoren, nur den Verstand einschalten müssen, sagten Tsunami-Experten. Es gebe eine Faustregel: Wenn Beben über 7,5 Grad stark sind oder man sich „während des Bebens nicht mehr auf den Beinen halten kann”, ist es Zeit, die Flucht zu ergreifen.
Andreas Valda ist freier Journalist in Südamerika und schreibt unter anderem für den „Tages-Anzeiger”. Er ist in Santiago de Chile stationiert.
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