Die wichtigste Auszeichnung für Fotojournalismus weltweit: Jedes Jahr vergibt World Press Photo ihre Awards für die besten Pressebilder. Für EDITO kommentiert die Bildredaktorin Sonia Favre zwei prämierte Bilder von Adam Ferguson und Rina Castelnuovo.
Adam Ferguson, Australia Kabul, Afghanistan am 15. Dezember 2009. The Spot News: 1st prize singlesDas Bild entstand kurz nach einem Selbstmordattentat in der afghanischen Hauptstadt Kabul. Die Welt liegt in Trümmern, man ahnt die Wucht der Zerstörung. Das gezeichnete Gesicht der fliehenden Frau spiegelt heftige Emotionen. Sie scheint vor Schrecken wie erstarrt, wohl unfähig einen Schritt zu tun, hätte sie nicht die Unterstützung ihrer zwei Retter, die sie an den Handgelenken fassen, ausländische Soldaten in Afghanistan. Die grossen, geöffneten, kraftvoll wirkenden Hände der Frau scheinen in diesem Augenblick nichts mehr halten zu können. Die lineare Perspektive erzeugt ein Spannungsfeld. Zwei dynamisch zusammenhängende Ereignisse bestimmen das Bild. Die Explosion der Bombe im Hintergrund führt zur Flucht der drei Protagonisten, wobei die beiden Soldaten sich nicht in unmittelbarer Nähe der Explosion aufgehalten zu haben scheinen, sie wirken unverletzt, gefasst und tatkräftig. Der Mann rechts ist zudem durch ein Funkgerät in seiner linken Hand mit einer Stelle ausserhalb des Bildes verbunden, die Kontrolle und Sicherheit verspricht. Der linke Arm als rettender Flügel. Durch den hellen Widerschein auf den drei Gesichtern scheint es, als liefen die drei Figuren aus Dunkelheit und Chaos in eine bessere Welt.
Rina Castelnuovo, Israel Hebron, Israel/Palästina am 10. März 2009. General News: 3rd prize singlesAuf dem zweiten Bild, ebenfalls in einer linearen Perspektive gehalten, wirkt die Welt verschlossen, abgeriegelt, eingeigelt. Die Szene wurde in Hebron festgehalten, einer Stadt in der Westbank, wo israelische Territorialansprüche mit palästinensischen Interessen kollidieren. Die Wege zweier Figuren kreuzen sich. Eine palästinensische Frau, die sich an der Häuserwand entlang zu drücken scheint, und ein junger Jude, der breitbeinig auf der Strasse im Zentrum des Bildes mit einer ausholenden Geste den Inhalt seines Bechers gegen die Frau wirft. Seine Körperhaltung erinnert an die palästinensischen Steinewerfer von Hebron, Steine als hilflose Waffen gegen Raketen. Hier ist die Waffe der Wein des jüdischen Purim-Fests. Von dort her scheint der junge Mann zu kommen, noch berauscht von den Feiern des antiken Sieges über die Widersacher, bestärkt im Kampf gegen die Überzahl der feindlichen palästinensischen Einheimischen von Hebron. Seine Verachtung gegenüber dem muslimischen Grundsatz, keinen Alkohol zu sich zu nehmen, gegenüber der muslimischen Lebensweise und deren blosser Anwesenheit schwingt in dieser erniedrigenden, beschmutzenden Geste expressiv mit. Zwei Glaubensrichtungen, zwei Ansprüche, zwei Haltungen, eingefangen in einer kurzen Begegnung.
Auf beiden Bildern, obwohl aus unterschiedlichen Krisengebieten, ist der Alltag von Religionskonflikten, Extremismus, Terrorismus und dem Leben am Abgrund gezeichnet. Beide Bilder sind formal ähnlich aufgebaut. Die Protagonisten bewegen sich im rechten vorderen Bildbereich, nahe dem Betrachter, beziehen ihn durch die unmittelbare Momentaufnahme mit ein. Es scheint, als würde der Betrachter von der anderen Strassenseite aus die Szenerien beobachten. In beiden Bildern treffen Frau und Mann aufeinander. Einmal ist der Mann der Erretter, im anderen Fall der Aggressor. Die Frau, die mütterliche Figur in Bezug auf die jungen Männer, bleibt das Opfer. Von beiden Situationen wurde nur je ein Bild in den Wettbewerb gegeben. Die Geschichten erzählen sich in einer einzelnen Ikone, die das ganze Ausmass des Leids und der Zerstörung einfängt.
Sonia Favre ist Kunsthistorikerin und freie Bildredaktorin in Zürich und arbeitet unter anderem für „Beobachter”, „SonntagsZeitung” und „Tele”. Daneben lässt sie sich zur Kulturmanagerin ausbilden.
Auf www.worldpressphoto.org kann man alle prämierten Bilder anschauen. World Press Photo ist eine Stiftung in Amsterdam. Präsident der Jury war dieses Jahr Ayperi Karabuda Ecer (Schweden/Türkei), Vizepräsident von „Reuters pictures”.
Die weiteren (ausserhalb Auswahl von world press photo) drei gezeigten Bilder (Seite 23) aus Adam Fergusons Dokumentation über den Krieg in Afghanistan zeigen, ähnlich wie bei Rina Castelnuovo, den menschlichen Aspekt der Tragödie. Der Betrachter scheint mittels einer agierenden Figur am vorderen Bildrand wiederum unmittelbar am Geschehen teilzunehmen und miteinbezogen zu sein. Durch den ausgeprägten Hell-Dunkel-Kontrast werden die Szenen dramaturgisch aufgeladen, die monochromen Tarnfarben verstärken den Eindruck eines unheimlichen, vergessenen Orts. Von Rina Castelnuovo waren für den EDITO-Bericht leider keine weiteren Bilder erhältlich.
Rina Castelnuovo, geboren 1956 in Tel Aviv, Israel, verfolgt seit zwei Jahrzehnten den israelisch-palästinensischen Konflikt und dokumentiert mit ihrer Arbeit das menschliche Antlitz hinter der politischen Fassade. Sie geht dabei so unaufdringlich und dezent wie möglich vor. Ihr kulturelles Verständnis und ihr Mitgefühl für die Region ist spürbar in privaten, emotionalen Momenten, sei das auf Militärbasen oder bei jüdischen Siedlern. Die Fotografin arbeitet unter anderem für das „Time Magazine”, den „Stern” und die Newsagentur AP sowie für das Büro der „New York Times” in Jerusalem, in dessen Auftrag das prämierte Bild entstand.
Adam Ferguson, geboren 1978 in New South Wales, Australien, bewegte sich in den letzten drei Jahren in den asiatischen Krisengebieten. Er arbeitet unter anderem für die „New York Times”, für „Newsweek” und für „Stern”. 2009 wurde er für das „VII Mentor Program” ausgewählt, eine Initiative für Nachwuchstalente der Pariser und New Yorker Fotografen-Agentur VII, der auch der renommierte Kriegsfotograf James Nachtwey angehört. Während zweier Jahre hat Ferguson in Begleitung seines Mentors, des Senior-Mitglieds Gary Knight von VII, seine fotografischen Fähigkeiten verfeinert und perfektioniert. Das prämierte Foto entstand im Rahmen dieses Programms für die „New York Times”.
© EDITO 2010
|